Zukunft bauen: seit 140 Jahren mit Ankersteinen
Stein auf Stein fasziniert Kinder und Kidults
Von Peter Thomas
Was macht ein im 19. Jahrhundert geborenes Konstruktionsspiel heute so wertvoll für frühkindliche Pädagogik, wo es doch ein immenses Angebot digitaler Lernspiele gibt? „Kinder müssen erst einmal mit eigenen Händen die Welt begreifen, bevor sie umfassend in der digitalen Welt arbeiten können. Das Bauspiel Ankersteine eignet sich ideal dafür, den realen Raum zu erkunden“, sagt Prof. Dr. Michaela Rißmann von der FH Erfurt. Die Erziehungswissenschaftlerin leitet das Thüringer Institut für Kindheitspädagogik. Mit Studierenden hat sie sich seit 2019 in Seminaren intensiv mit Ankersteinen beschäftigt. Das Thema lag im Wortsinn nahe: Produziert wird das Bauspiel im nur rund 40 Kilometer entfernten Rudolstadt.
Flugpioniere Lilienthal erfanden den Ankerstein
Die Ankerstein-Manufaktur setzt unterschiedliche Maschinen ein, um die Komponenten mit ihrer charakteristischen Haptik herzustellen. Aber ob nun moderne Industrietechnik oder eine historische Handpresse zum Einsatz kommt, die Zutaten der Bausteine sind seit fast 150 Jahren gleichgeblieben. Aus Sand, Schlämmkreide, Leinöl und Pigmenten entstehen unter hohem Druck die einzelnen Bausteine. „Das Leinöl verharzt dabei und verbindet die Naturstoffe zu hochstabilen Bauelementen“, erläutert Betriebsleiterin Ines Schroth das Verfahren, welches ohne moderne Klebstoffe auskommt.
Erfunden haben es Mitte der 1870er-Jahre die Brüder Otto und Gustav Lilienthal für ihr innovatives Bausystem aus Kunststeinen. Doch dem Start-up der Flugpioniere fehlte das Geld zur Verwirklichung ihrer Idee. Da kam der Pharmazieunternehmer Friedrich Adolf Richter zu Hilfe. Er kaufte den Lilienthals die Rechte am Konzept und der Herstellungsmethode ab, meldete das Ganze zum Patent an, gründete das Werk in Rudolstadt und machte die Ankersteine in den 1880er-Jahren zum internationalen Markterfolg.
Ankergaben für Kinderzimmer, Kitas und Schulen
Zu den jüngsten Produkten der Ankerstein-Manufaktur gehören die „AnkerGaben“. Schon der Name der Baukästen verweist darauf, dass sie sich an den wegweisenden pädagogischen Prinzipien von Friedrich Fröbel orientieren, unter anderem Gründer des Kindergartens. Entwickelt hat sie das Unternehmen gemeinsam mit Frau Prof. Rißmann. Den Impuls zu den ersten drei Kästen für Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren gab ein Seminar ab 2019, sagt die Erziehungswissenschaftlerin.
Die ersten AnkerGaben werden vor allem in Kindertagesstätten eingesetzt. Nun folgen drei weitere Kästen für Kinder im Alter von sechs bis zehn Jahren – also für die pädagogische Arbeit in Grundschulen. „Die AnkerGaben gehören zu den Produkten, mit denen wir uns wieder stärker in Kinderzimmern, Kitas und Schulen etablieren wollen“, sagt Ines Schroth. Auch die „Animala“-Baukästen rund um verschiedene Tiere von A bis Z sind Teil dieser Strategie.
Großmodelle für Kidults
Auf der anderen Seite des Produktprogramms stehen Großmodelle und klassische Baukästen. Diese Produkte haben eine weltweite und gut vernetzte Fangemeinde erwachsener Miniatur-Architekten. Solche erwachsenen Nutzer von Spielwaren werden als Kidults beschrieben – das Kunstwort verbindet „adults“ und „kids“. Auf der Spielwarenmesse 2024 in Nürnberg gehörten Kidults zu den wichtigen Trends. „Das Phänomen gibt es bei uns schon viel länger, als der heute so aktuelle Begriff besteht“, sagt die Ankerstein-Betriebsleiterin. Was die Modellbauer antreibt, von denen viele mehrere Zehntausend Steine besitzen? Es ist die Faszination an den hochpräzisen gefertigten Elementen mit Toleranzen im Bereich von nur 0,2 Millimetern. Es ist die besondere Ästhetik der schweren und fein nach Leinöl duftenden Steine. Und es ist die Herausforderung, komplexe Gebäude wie die Miniatur des Barockschlosses Moritzburg aus sieben großen Baukästen mit zusammen rund 2.400 Steinen zu bauen.
Historische Begeisterung, Leidenschaft für die Manufaktur, Wertschätzung des Baumaterials, Entspannung, Entschleunigung – das sind Stärken, die erwachsene Baumeister an den Ankersteinen nennen. Der Hersteller bedient diese wichtige Fangemeinschaft regelmäßig mit neuen Themenbaukästen. 2023 war es ein Modell der Klosterruine Paulinzella. Derzeit ist das nächste Modell in Arbeit. Das Thema wird noch nicht verraten, sagt Ines Schroth. „Aber es handelt sich wieder um ein historisches Bauwerk aus Thüringen und es steht im Zusammenhang mit einem Jubiläum“, ergänzt die Betriebsleiterin.
„Ein historisches Spielsystem, das heute topaktuell ist“
Michaela Rißmann kann persönlich nachvollziehen, dass die Ankersteine auch Erwachsene begeistern. Die Professorin kam durch die eigene Familie zum Bauen mit dem historischen Konstruktionsspielzeug: „Das ist ein historisches Spielsystem, das heute topaktuell ist“, freut sie sich. Auch in solcher Begeisterung sieht sie einen Hebel, um das Wissen rund um die Bausteine bei Pädagogen in Kitas und Grundschulen zu fördern. „Kinder profitieren davon, wenn die Fachkräfte selbst mit Ankersteinen bauen und aus eigener Erfahrung wissen, wie schwer manche Schritte sind – oder wie leicht. So können sie die Kinder viel besser begleiten“, sagt die Erziehungswissenschaftlerin.
Die Chancen dieses gemeinsamen Bauens mit den Kunststeinen sind groß, insbesondere für die Vermittlung grundlegender Kompetenzen im MINT-Bereich (Mathematik, Ingenieurwissenschaften, Naturwissenschaften und Technik) schon für junge Kinder. Geometrie, Physik, Statik und Mathematik nennt die Professorin als Inhalte, aber auch Sprachvermögen, Raumverständnis und mehr. Ihr Fazit: „Lehrkräfte in Kitas und Schulen sollten mehr Mut haben, sich auf so scheinbar belanglose Methoden wie das Bauspiel Ankersteine einzulassen“.
Zum Weg in die Moderne gehören digitale Bauanleitungen, die sich per QR-Code aus dem Internet laden lassen. „Das ergänzt die Bücher für Pädagogen und Arbeitshefte für Kinder, die zu den Ankergaben gehören“, erklärt Ines Schroth.
Mut zur Erfolgsgeschichte
Wer einen Kasten mit Ankersteinen öffnet, eines der schönen Bauelemente herausnimmt und den Duft der Zukunft auf Basis der Herkunft genießt, der hat auch ein Stück mutiger Erfolgsgeschichte regionaler Wirtschaft in der Hand. Denn die Historie der Ankersteine ist nicht nur von Höhen, sondern auch von Krisen geprägt.
Bis zum Tod von Unternehmensgründer Richter 1910 geht es kontinuierlich bergauf mit dem Spielsystem. Die Ankersteine überstehen Erbstreitigkeiten und zwei Weltkriege. Doch 1963 wird das Unternehmen, mittlerweile ein volkseigener Betrieb der DDR (VEB) geschlossen. Zum Glück ist die weltweit vernetzte Gemeinde der Ankersteinfreunde weiter aktiv. 1995 wagt der Berliner Professor und Ankerstein-Konstrukteur Georg Plenge die Neugründung und beginnt nach mehr als 30 Jahren Pause wieder mit der Produktion der legendären Steine. 2009 folgte ein Besitzerwechsel.
Neues Zuhause – Wie aus dem Baukasten
2017 stand die Ankersteinmanufaktur dann einmal mehr vor der Schließung. Diesmal sprang die Arbeiterwohlfahrt Rudolstadt ein, übernahm die Fertigung und führt seither die Ankerstein GmbH erfolgreich als Inklusionsbetrieb mit zehn Mitarbeitenden und mit Kunden in aller Welt. In diesem Jahr steht der Umzug in ein neues Gebäude an, das historische Postamt von Rudolstadt im Herzen der Stadt. Die notwendigen Umbauarbeiten sind erheblich, trotzdem freut sich Betriebsleiterin Ines Schroth schon jetzt. „Das Gebäude geht zurück bis auf die Thurn-und-Taxis-Post. Und es sieht aus, als wäre es aus großen Ankersteinen gebaut“, sagt die Betriebsleiterin.
Über den Autor Peter Thomas:
Geschichten über Technik und Menschen erzählen: Das fasziniert den Journalisten, Autor, Kulturwissenschaftler und Dozenten seit mehr als 30 Jahren. Technisches Spielzeug steht dabei immer wieder im Fokus, vom Baukasten bis zu interaktiven digitalen Lernspielzeugen. Nach Studium und Arbeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität schreibt Peter Thomas für Tageszeitungen, Magazine und Unternehmenspublikationen im deutschen und englischen Sprachraum. Seine Schwerpunkte neben der Welt des Spiels sind Mobilitäts-, Sicherheits-, Energie- und Medizintechnik.