Tage der Brettspielkritik
Der Verein „Spiel des Jahres“ fördert die Zunft mit einer hochkarätigen Fortbildung
„Wer sich als Kritiker öffentlich exponiert, der muss sich der Kritik selbst stellen.“ Gastgeber und Spiel-des-Jahres-Geschäftsführer Guido Heinecke eröffnete den Tag der Brettspielkritik gleich mit dieser deutlichen Ansage. Der gemeinsame Anspruch: Selbstreflexion und immer besser werden. Also hat der Verein der Brettspieljournalisten, der seit 1979 den Preis Spiels des Jahres in mittlerweile drei Kategorien vergibt, den Tag der Brettspielkritik ins Leben gerufen. In Mannheim fand die Fortbildung am Wochenende vom 8. zum 10. März 2024 statt mit 75 Medienschaffenden für Print, Blogs, Vlogs und Podcasts – schon zum dritten Mal seit 2019.
Das Wochenende der Brettspielkritik: Lernen, diskutieren und vor allem: Spielen
Kaum schlugen die Ersten im Hotel Delta Park Mannheim auf, schon hatten sie sich Stehtische und verfügbare Sitzplätze gekapert – und die Spiele ausgepackt. Als Harald Schrapers, Spielekritiker und seit 2018 Vorsitzender des Vereins, die Anwesenden begrüßte, war das Spielen schon im vollen Gange. Genau wie es Harald Schrapers zwei Tage später in seinem Schlusswort allen, die dabei waren, mit auf den Weg gab: „Natürlich gibt es das Kulturgut Spiel, noch wichtiger aber ist das Kulturgut Spielen. Das ist unser Alleinstellungsmerkmal: Und dieses Spiel ist nur gemeinsam erlebbar.“
75 Kritiker des Kulturgutes Brettspiel kamen also für ein Wochenende zusammen, doch das darf man sich nicht wie reine Dorfromantik vorstellen. Schließlich geht es um etwas, alle wollen besser werden, besser schreiben, filmen, Themen setzen. Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten mit dem Spiel des Jahres 2023: Die Bubble der Spielekritik besteht aus vielen kooperativen Menschen (außer es wird um den Sieg gespielt), die auf Augenhöhe agieren. Schließlich kämpft man für ein großes, gemeinsames Ziel: Den Durchbruch des Spiels, des Spielens als allseits akzeptiertes Kulturgut (wie Literatur, Theater, Film …) zu manifestieren. An einem wichtigen Merkmal für „Kulturgut“ fehlt es jedenfalls nicht. Wie etablierte Literatur-, Theater- oder Filmkritiker sind auch die Kolleginnen und Kollegen der Brettspielbranche maximal informiert. Nahezu jeder hat den Kanon der Brettspielgeschichte drauf, alles durchgespielt, beurteilt, besprochen. Am Abend, als nach dem Essen sofort die Schachteln mit den Kostbarkeiten des aktuellen Spielejahrgangs herausgeholt wurden, zeigte sich, dass viele der Anwesenden auch das Allerneueste durchgespielt haben. State of the Art ist seit jeher eine selbstverständliche Kritikerverpflichtung.
Konzentrierte Arbeitsatmosphäre: Profi-Tipps für den Werkzeugkasten
„Der Tag der Brettspielkritik war nicht nur ein besonderes Get-together, sondern auch ein handwerkliches Level-Up“, heißt es in einer Nachbetrachtung von Guido Heinecke : Dementsprechend anspruchsvoll gestalteten sich Anforderungen an die Kritikerinnen und Kritiker. Wie auch der Referent Efka Bladukas mit der Frage deutlich machte, „What do we owe our Audience“. Der Mann aus Klaipėda, einer Hafenstadt in Litauen, wohnt inzwischen mit seiner Frau Elaine in Nottingham, UK. Er wirkt in seinen Videos manchmal wie der Clown der Branche, doch wie bei allen großen Clowns, ist sein Anspruch ernsthaft und wahrhaftig, seine Fragen an die Gemeinde sind mitunter monströs: „Can a Board Game Save the World?“ heißt eines seiner Videos. Die gesammelten Spielerezensionen und Features sind unter der Überschrift No pun included erschienen, ein Scherz, der etwa heißt: „kein Wortspiel inbegriffen“. Efkas Aufforderung, gestenreich und dramatisch vorgetragen, geht aufs Ganze: „Das Brettspiel muss stets in kulturellem Kontext begriffen werden.“
Auch Guido Heinecke bekennt sich dazu, das Gute noch ertüchtigen zu wollen, mit der Forderung, sich an den Großkritikern der Literatur- und Theaterszene ein Beispiel zu nehmen. Die haben schon immer lebhaft gestritten, sich aufeinander bezogen, übereinander geschrieben, im Gegensatz zur Brettspielkritik: „Unsere Blogs und Magazine der Brettspielszene sprechen nicht im Geringsten übereinander, ja, sie setzen ihre Beiträge noch nicht einmal in einen Kontext zueinander. Es ist, als würde man in einen Himmel voller Seifenblasen schauen. Lebt die große Masse der Blogger, YouTuber, Podcaster und Magazinschreiber isoliert in ihrer eigenen Bubble und scheint sich nicht für die anderen zu interessieren?“. Die Antwort, lapidar: „Ich glaube schon“.
Um die Werkzeugkästen der Brettspielkritik aufzupimpen, waren etliche namhafte Referenten angetreten: Maren Hoffmann vom Spiegel (sie ist u.a. Jurymitglied bei „Spiel des Jahres“), findet, dass „kleine Texte funkeln sollten“. Nichts weniger als „Diamantenschliff“ ist ihr Anspruch. Allerdings ist die Schilderung, wie dies beim „Spiegel“ gelingt, ernüchternd: Wer hat schon eine ganze Redaktion hochkarätiger Kollegen an der Hand, die eigene Texte schonungslos durchforsten, mit scharfer interner Kritik nicht hinterm Berg halten? Hier würde den Einzelkämpfern der Brettspielkritik nur nimmermüdes autodidaktisches Fortbilden helfen und Netzwerken, das gegenseitiges Ertüchtigen durch Kritik ermöglicht. Alle Solokünstler des Journalismus kennen dieses Problem.
Andreas Becker gehört zu den wenigen, die für ihre ausschließlich dem Spiel gewidmete Tätigkeit eine feste Anstellung besitzen. Der Chefredakteur des Branchenmagazins spielbox hat etliche eingesandte Brettspielkritiken mitgebracht und keine Scheu, an konkreten Beispielen aufzuzeigen, dass in seiner Praxis auf allen Ebenen, sprachlich, grammatikalisch … ordentlich Luft nach oben ist.
Daniel Wüllner, bei der Süddeutschen Zeitung zuständig für Social Media und Leserbetreuung, schreibt gelegentlich über Brettspiele, Comics und Serien. Sein Praxistipp, pragmatisch und leicht umzusetzen: „Bei einer Spielkritik ruhig mal ein klares Fazit an den Anfang setzen, um Leserinteresse zu entfachen“.
Brettspiel-Vlogs, -Blogs, -Podcasts, -Kritiken: Journalismus aus Passion
Menschen die Brettspielkritiken veröffentlichen üben einen Beruf aus, der als Berufsbild nicht anerkannt ist. Was aber nicht heißt, dass es für die hier Aktiven nicht ums Ganze geht. Wenn auch wenige auskömmlich von dieser anspruchsvollen Tätigkeit leben können, ist es doch ein Geschäft, dessen Ergebnisse zwar leichtfüßig und elegant daherkommen, gleichwohl mit größter Mühe betrieben werden. Nicht wenige der anwesenden Brettspielkritiker sind professionelle Journalisten, allerdings aus spielfremden Ressorts: Maren Hoffmann („Job und Karriere“ beim Spiegel), Dr. Lino Wirag (Social Media für utopia.de und oekotest.de), Nicola Balkenhol (Deutschlandradio), der SWR-Journalist Fabian Ziehe gehören dazu. Udo Bartsch, Jury-Urgestein und Chefredakteur der „Spiel doch!“ aus dem Nostheide Verlag, betreibt den Blog Rezensionen für Millionen und schreibt als Freier für alle, die an Spielekritik interessiert sind.
Die meisten Brettspielkritiker tun dies in ihrer Freizeit. Das Ehepaar Zerlik, Julia und Stephan, sie studierte Grundschullehrerin, die als Referentin an der Universität Frankfurt arbeitet; er Mediengestalter Bild und Ton, bündeln ihre beruflichen Fähigkeiten und die Leidenschaft fürs Brettspiel in vielbeachteten Videoblogs, an denen kein Rechercheur vorbeikommt. Petra Fuchs steht dem Verein Jung und Alt spielt vor, leitet ein Jugendzentrum, bloggt Spielerezensionen und schreibt parallel ihre Dissertation („Spielerisch motivierende Wissensvermittlung in der Lehre der Sozialen Arbeit“). Überhaupt sind nicht wenige Gäste mit Lehraufträgen an Universitäten ausgestattet und mit ihren Doktorarbeiten wissenschaftlich mit dem Thema „Spiel“ beschäftigt, das gilt für Seminarteilnehmer ebenso wie für die eingeladenen Referenten: Sarah Klöfer, Valentin Köberlein, Anna Falke – wie alle Erwähnungen kursorisch und unvollständig. Buntheit, Themenauswahl, Qualitätsanspruch, dafür steht stellvertretend Tim Billen von den Teilzeithelden, dem Onlinemagazin für gespielte und erlebte Phantastik. Im „Zivilberuf“ ist er zuständig für digitale Romane bei Bastei Lübbe.
Brettspiel und Diversität
An Professionalität mangelt es also nicht, der Brettspielkritiker an sich – den es so nicht gibt – liegt weit über dem durchschnittlichen Bildungsniveau. Eine Frage, die wegen der Knappheit der Zeit nur kurz angetippt werden konnte, stellte die an der Universität Koblenz lehrende Pädagogik-Professorin Dr. Wiebke Waburg: Wie halten es Brettspiel-Verlage und -Autoren mit modernen Anforderungen an Diversität, was viel mehr als nur eine Berücksichtigung männlicher und weiblicher Rollen im Spieleszenario bedeutet. Vielmehr kann man das gesamte Spektrum diverser Lebensentwürfe im Spiel untersuchen – wer adäquat repräsentiert und dargestellt wird, wie Herkunft, Alter, Schicht, Geschlecht und geschlechtliche Identität, sexuelle Orientierung, körperliche und geistige Fähigkeiten sowie Religion und Weltanschauung zur Darstellung kommen. Auch Körperformen gehören in diesen Diskussionskanon. Dies ist ein Thema, das an dieser Stelle noch einen eigenen Artikel erhalten wird.
Last not least: Was wurde gespielt
Brettspieler und Brettspielerinnen finden sich schnell. Die Tische vom Abendessen noch nicht abgeräumt, werden Kartons und Schachteln herausgezogen. Was wird gespielt? Wenn Kritiker sich treffen, werden keine Evergreens gesungen. „Eine Auswahl, nur aus dem aktuellen Jahrgang“ erklärte uns Julia Zerlik aus der Jury Spiel des Jahres.
Beim Wandern zwischen Tischen treffen wir Valentin Köberlein, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Konstanz, der gerade „Mycelia“ erklärt, ein schnell zu lernendes und gleichwohl anspruchsvolles Familienspiel, bei dem es darum geht, in der Natur Wassertropfen von unterschiedlichen Pflanzen zu entfernen.
Udo Bartsch erzählt, dass an seinem Tisch am ersten Abend gleich fünf Spiele ausprobiert wurden, sein persönlicher Favorit dabei war „Passt nicht!“, ein kurzweiliges schnelles Kartenspiel von Thomas Weber.
Vor allem die Kollegen von SpieleMA e. V., der kostenlosen Brettspiel-Ausleihe in Mannheim, haben die Auswahl für das Wochenende mitgebracht: „Soweit ich das beurteilen kann, war das Brettspiel Heat, welches schon letztes Jahr zum Deutschen Spiele-Preis nominiert war, sehr gefragt. Aber auch Spiele frisch aus der Druckerpresse wie Vale of Eternity oder Ku-Ka-König fanden ihr Publikum. Gespielt wurde eigentlich alles, vom lustigen Partyspiel bis ihn zum wirklich schweren Hirnverdreher“, fasst für uns Jan Dotzlaw seine Beobachtungen zusammen.
Das ist der Verein „Spiel des Jahres“
Im Februar 1978 saß eine Gruppe freier Spielekritiker kurz vor der Eröffnung der Spielwarenmesse in der Nähe von Nürnberg privat beisammen. Es waren einige bekannte Namen der Szene dabei, u.a. der Gastgeber Tom Werneck, der Spielekritiker und Sammler Bernward Thole (siehe Deutsches Spielearchiv Nürnberg, erster Vorsitzender des Vereins von 1979–1994), der 2004 verstorbene Spieleerfinder Alex Randolph … und Jürgen Herz, der die Idee hatte, ein „Spiel des Jahres“ von unabhängigen Kritikern wählen zu lassen. Dies geschah ab 1979. Seit 2001 wird auch das Kinderspiel des Jahres ausgezeichnet. Seit 2011 vergibt die Jury einen dritten Hauptpreis, Kennerspiel des Jahres.
Die zurzeit 15 stimmberechtigten Vereinsmitglieder gehören entweder der Jury für das Spiel und das Kennerspiel des Jahres oder der Kinderspiel-Jury an. Außerdem gibt es drei beratende Vereinsmitglieder. Vorsitzender des Vereins ist seit 2018 der Duisburger Fachjournalist Harald Schrapers (spielbox). Aktueller Geschäftsführer: Guido Heinecke. Gründungssitz des Vereins ist Nürnberg, die Geschäftsstelle befindet sich in Kerpen bei Köln.
Die Arbeit der Jury und die Prämierung Spiel des Jahres hat der gesamten Gesellschaftsspielbranche Aufschwung verliehen. Das betrifft sowohl die Umsatzzahlen von Spielen, als auch die Anerkennung des Spiels und des Spielens im Kulturbereich.
Die wichtigsten Termine des Vereins Spiel des Jahres 2024
Dienstag, 11. Juni 2024, 16 Uhr: Bekanntgabe der Empfehlungs- und der Nominierungslisten: Spiel, Kinderspiel und Kennerspiel des Jahres 2024
Sonntag, 21. Juli 2024, 18 Uhr: Preisverleihung: Spiel, Kinderspiel, Kennerspiel des Jahres 2024 | nhow Music Hall| Berlin
3. bis 6. Oktober 2024: Messestand auf der SPIEL Essen | Halle 5 Stand M136 | Messe Essen
Zu weiteren Terminen 2024
Über den Autor Peter Budig
Peter Budig hat Evangelische Theologie, Geschichte und Politische Wissenschaften studiert. Er war als Journalist selbstständig, hat über zehn Jahre die Redaktion eines großen Anzeigenblattes in Nürnberg geleitet und war Redakteur der wunderbaren Nürnberger Abendzeitung. Seit 2014 ist er wieder selbstständig als Journalist, Buchautor und Texter. Storytelling ist in allen Belangen seine liebste Form.